A.A. Maniero: Umkämpfter Weg zur Bildung

Cover
Titel
Umkämpfter Weg zur Bildung. Armenische Studierende in Deutschland und der Schweiz von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Maniero, Arpine A.
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa (9)
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 85,00
von
Kornelia Kończal, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Indem Arpine Maniero in ihrer 2020 erschienenen Monografie das Studium junger Armenier an deutschsprachigen Universitäten um die Jahrhundertwende untersucht, schliesst sie eine erhebliche Forschungslücke. Das Auslandsstudium betrachtet die Autorin als den wichtigsten Ausgangspunkt gesellschaftlicher Reformen in Armenien und befasst sich somit mit einem Dilemma, mit dem auch viele andere Völker damals konfrontiert waren: Wie liesse sich die (überfällige) Modernisierung der jeweiligen Gesellschaft ohne Verlust ihrer kollektiven Identität gestalten? Um dieses komplexe Problem zu verstehen, legt Maniero die Rahmenbedingungen armenischer Bildungsmigration dar, rekonstruiert akademische und alltägliche Erfahrungen der Armenier an ausgewählten deutschsprachigen Universitäten und erforscht Reformideen, die daraus hervorgegangen sind, sowie ihre Resonanz in der armenischen Öffentlichkeit. Der Arbeit liegt eine beeindruckende Menge und Vielfalt von Quellen aus armenischen, deutschen, russischen und schweizerischen Archiven zugrunde. Das Ergebnis dieses ambitionierten Unterfangens sind spannende Einblicke in die Erfahrungsgeschichte der armenischen Intelligenz und in die Modernisierungsgeschichte der armenischen Gesellschaft.

In den einführenden Kapiteln bespricht die Autorin die wichtigsten Faktoren, die das Auslandsstudium der Armenier geprägt haben: Zum einen war Armenien im späten 19. Jahrhundert zwischen dem Russländischen und dem Osmanischen Reich geteilt, sodass sich breite Teile der armenischen Gesellschaft von der Assimilierungspolitik zweier Imperien bedroht fühlten. Zum anderen gab es im Kaukasus bis 1918 keine Universität. Des Weiteren war der Zustrom armenischer Studierender nach Deutschland und in die Schweiz von der Dynamik der bilateralen Netzwerke beeinflusst. Nicht zuletzt übte auch in Armenien das humboldtsche Bildungsideal – im Gegensatz zu dem dort als utilitaristisch wahrgenommenen französischen Bildungssystem – eine besondere Faszination aus.

Zwischen den frühen 1860er Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges studierten ca. 770 Armenier an deutschen und schweizerischen Universitäten. Der grössten Popularität erfreuten sich unter ihnen technische und naturwissenschaftliche Fächer bzw. die Medizin. Die meisten Armenier waren an den Universitäten in Berlin, Bern, Darmstadt, Freiburg i. Br., Genf, Halle, Heidelberg, Jena, Karlsruhe, Leipzig, Lausanne, München und Zürich immatrikuliert (S. 90–110). Studierende, die von ihren Familien finanziell nicht unterstützt wurden, konnten sich um Stipendien wohltätiger Organisationen bewerben, die meistens aus kirchlichen Mitteln und Spenden wohlhabender Armenier finanziert wurden (S. 155–250).

Indem die Autorin zahlreiche Tagebücher, Korrespondenzen, Selbstberichte und Presseartikel auswertet, ergänzt sie diese vorwiegend quantitativen Erkenntnisse durch qualitative Einblicke in die Lebenswelten der Studierenden. Besonders interessant sind in dieser Hinsicht die Kapitel über das studentische Vereinswesen (S. 251–351), die Politisierung junger Armenier, insbesondere ihre Sympathien für den Marxismus und die Sozialdemokratie (S. 263–288) sowie die Erfahrungen armenischer Frauen (S. 110–137).

Obwohl es unter den in Deutschland studierenden Armeniern lediglich 17 Frauen gab und ihre Zahl in der Schweiz bei knapp über 100 lag, gelingt es Maniero viele Aspekte ihrer Alltagsgeschichte beeindruckend detailreich zu schildern. Wie ihre Kommilitonen waren armenische Studentinnen mit Finanznöten, sprachlichen Barrieren, der Angst vor der neuen Umgebung und Mentalitätsunterschieden konfrontiert. Im Vergleich zu ihren Kommilitonen waren armenische Frauen jedoch stärker von fehlenden Fachkenntnissen betroffen und anderen Bedrohungen – zum Beispiel der Prostitution – ausgesetzt. Die ausführliche Diskussion der Schatten- sollte jedoch die Lichtseiten des Auslandsstudiums nicht in Frage stellen: Bei der Lektüre kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die meisten Armenier das Niveau der Lehre an deutschsprachigen Universitäten regelrecht bewunderten und ihre Bildungserfahrungen sehr genossen.

Das Auslandsstudium insgesamt sowie konkrete bildungspolitische Ideen, die junge Armenier aus dem Ausland importieren wollten, waren in Armenien ein wichtiges Thema öffentlicher Debatten und keineswegs unumstritten: Der westeuropäische Einfluss galt sowohl als eine grosse Chance auf gesellschaftlichen Fortschritt als auch als Bedrohung der armenischen Tradition (S. 353–403). An ausgewählten Biografien zeigt Maniero persönliche Erfolgsgeschichten auf, bezweifelt jedoch den gesamtgesellschaftlichen Erfolg derarmenischen Bildungsmigration und sieht dafür sowohl innerpolitische Konflikte und Widerstände als auch die Zäsur des Ersten Weltkrieges verantwortlich.

Manieros Studie gewährt grundlegende Einblicke in die Geschichte des Kultur- und Wissenstransfers und ist somit eine über den regionalen Kontext hinaus hochgradig anregende Lektüre. Hingewiesen sei auf drei Aspekte: Der im Titel angekündigte Fokus auf armenische Studierende «in Deutschland und der Schweiz» entspricht erstens nicht ganz dem Untersuchungsgegenstand, denn zum einen werden französischsprachige Universitäten in der Schweiz nur am Rande berücksichtigt und zum anderen wird die Rolle der Universität in Dorpat (heute: Tartu), das heisst der einzigen deutschsprachigen Universität im Russländischen Reich, als «Hochburg der armenischen Studentenschaft» ausführlich erörtert (S. 71–89). Dies lädt zur transregional vergleichenden Forschung zur Geschichte der armenischen Bildungsmigration ein. Die an vielen Stellen rekonstruierten individuellen und institutionellen Verbindungen zwischen armenischen, deutschen und schweizerischen Akteuren bieten zweitens eine gute Grundlage für weitere Erforschung interkultureller Netzwerke. Deutsch-französische Vergleiche, die in vielen armenischen Aussagen aufscheinen, weisen drittens auffällige Ähnlichkeiten mit Debatten auf, die um die Jahrhundertwende in Ostmitteleuropa geführt wurden, und inspirieren somit zum Nachdenken über die Geschichte der deutsch-französischen Konkurrenz um die intellektuelle und kulturelle Hegemonie jenseits von Kerneuropa.

Zitierweise:
Kończal, Kornelia: Rezension zu: Maniero, Arpine A.: Umkämpfter Weg zur Bildung. Armenische Studierende in Deutschland und der Schweiz von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 311-312. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen